In Eugène Ionescos Stück „Rhinocéros“ verwandeln sich die Bewohner der Bühne nach und nach in eine Herde Nashörner. Jeder hat seine guten Gründe. Mensch bleibt nur der schüchterne, ständig alkoholisierte Bérenger, dem es an Ehrgeiz zur Nashornwerdung fehlt. So absurd das Geschehen ist, so realistisch die Charaktere in ihrem Drang zur Anpassung.
Es liegt nahe, das Stück, erschienen in den 1950er Jahren, als Parabel auf den Faschismus zu lesen. Es lohnt sich, beim Wiederlesen an heute zu denken. Während die Nashörner im Tierreich vom Aussterben bedroht sind, nimmt ihre Zahl unter den Menschen stetig zu.
Denken wir aber nicht an heute, dann stelle ich mir Erich Mühsam in der Rolle des einzigen Menschen vor. Ein Außenseiter wie Ionescos Bérenger, ein konsequenter Verweigerer der bürgerlichen Tugenden und Freund des Lumpenproletariats. Für ihn waren Künstler, unabhängig von ihrem Werk, zuallererst „Menschen, die die gesellschaftliche Nutzarbeit verweigern“. Ein Anti-Untertan im Land der Untertanen, den die Untertanen konsequent verfolgten und vor neunzig Jahren brutal ermordeten.
Lang ist es her, aktuell bleibt die Frage: Warum wagt einer Mensch zu bleiben, wenn die Nashörner marschieren?
Aktuell bleibt auch vieles, was Mühsam schrieb, ein Beispiel seine Skizzierung der „deutschen Charakterlosigkeit“, die er „mit dem Beamtencharakter der Deutschen“ erklärt, „mit dieser übertriebenen Richtigkeit, Deutlichkeit, Gründlichkeit in allen Dingen, die jede frische Sorglosigkeit ausschließt und mit dem wahrhaft widerlichen Unfehlbarkeitsdünkel des deutschen Wesens, an dem bekanntlich die Welt genesen soll […]. Wir halten’s hier mit der Wissenschaftlichkeit, die alles kennt, alles weiß, alles durchschaut, und was sie etwa nicht kennt, weiß und durchschaut, wie die übersinnlichen Dinge, einfach leugnet. Dadurch hat der typische Deutsche etwas Unpersönliches, Langweilig-Sachliches, ewig Korrektes. Er funktioniert statt zu leben, und darauf beruht ja auch seine hervorragende Militärtüchtigkeit.“
Wer sich am 27. Februar 2024 in Lübeck oder in der Nähe von Lübeck aufhält, wo die Erich-Mühsam-Gesellschaft das Andenken des Dichters hoch hält, der sei herzlich eingeladen, in die „Gemeinnützige“ zu kommen. Um 19:30 Uhr, in der Königstr.5, 23552 Lübeck, verfolge ich die Frage weiter: Woher der Mut?
Christine Sterly-Paulsen