Man sagt: Es herrscht eine Große Hitler-Inflation. Ich habe eine Strategie zur Lösung des Problems entwickelt: Man sollte alle Hitlers dieser Welt, die großen und die kleinen, ineinanderschachteln wie Matrjoschkas und sie auf ein Häkeldeckchen stellen.

Und es wird Frieden.

 

Es begann vor langer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat und ich zwanzig Jahre alt war und jede Woche den Spiegel las. Da stand eines Montags auf dem Cover „Saddam=Hitler“, farblich passend schwarz-rot hinterlegt. Drinnen belehrte mich ein Aufsatz (er stammte von Hans-Magnus Enzensberger, folglich belehrte er), dass niemand so geeignet zum Erkennen eines Hitlers sei wie die Deutschen, also wir, also er. Dabei hatte ich gerade noch in der Schule gelernt, dass Saddam unser moderater Verbündeter gegen die fanatischen Mullahs sei. Jetzt Hitler. Für mich war es der Beginn vom Ende einer langen Lesefreundschaft, für die Welt der Beginn der großen Hitlerinflation.

Heute gibt es so viele Hitlers, dass man sie kaum noch zählen kann. Gerade war Putin der aktuellste von uns Deutschen ausgemachte Hitler, da überholte flugs die AfD mit neuen Hitler-Erkenntnissen: Hitler war Kommunist. Warum hat er die Kommunisten dann alle umgebracht? Vielleicht wollte er der einzige sein. Hitlers sind so, unberechenbar. Israel ist inzwischen auch Hitler, obwohl Hitler sechs Millionen Juden ermordet hat. Und Putin glaubt, die Ukraine ist Hitler, wo er doch selbst Hitler ist. Verwirrender geht es kaum? Doch.

Denn vorgestern, da hat die Hitler-Inflation mich schließlich selbst erfasst. Dank Alice Weidel. Sie hat kurzerhand alle, die in Hamburg gegen sie demonstriert haben, zu kleinen Hitlers erklärt. Was? Wollten wir nicht gegen die Wiederkehr des Faschismus protestieren? Egal, die Sache hat ihre eigene Logik.

 

Die Wiederkehr des Ewig Gleichen

 

Ebenfalls vor rund dreißig Jahren, zu Anfang der Hitler-Inflation, hatte ich, unter dem Eindruck der damaligen Brandstiftungen und Morde von rechts, zweimal die Vision einer wiederauferstandenen uniformierten Volksgemeinschaft. Ich erinnere mich genau an beide Momente. Der eine war spät am Abend in einer Kneipe auf Sankt Pauli, wo junge Menschen mit merkwürdigen Kurzhaarfrisuren und Kleidung in schwarz und braun herumsaßen, die sich alle glichen und bestimmt nichts Politisches im Sinne hatten. Der andere war frühmorgens im Kölner Bahnhof, als ich aus einem französischen Nachtzug stieg. Ich sah sie vor mir, uniformierte Gespenster, gleichgültige, ausdruckslose Zuschauer, wie ein Bild aus einem alten Film. Ich erschrak. Ich erzählte ein paar Leuten davon. Es war nur ein Spuk, er verschwand.

Heute ist der Spuk wieder da und will nicht verschwinden. Die Untoten leben.

Wo, frage ich mich, kann man hingehen, wenn sie wiederkommen?

 

Christine Sterly-Paulsen