Als kleiner Junge bin ich zu Ostern oft zu meiner Oma gefahren. Sie bereitete sich auf unseren Besuch stets dadurch vor, dass sie etwa ein Dutzend bunt bemalter Eier auf ihren Wohnzimmertisch stellte. Ostereier, die wir gerne aßen. Einmal zu Ostern hatte meine korpulente Oma eine schmerzhafte Kolik. Der Landarzt wurde gerufen, ein kräftiger Mann, der als Mediziner für alles zuständig war: für die Menschen, den Hund und die Ziege hinten im Stall. Er kam und verabreichte meiner Oma Tabletten, die schnell anschlugen. Anschließend fragte ihn meine Tante, ob er eine Tasse Kaffee wolle. Doch, der Arzt wollte, setzte sich an den Wohnzimmertisch, trank Kaffee und entdeckte die bemalten Eier. Er nahm sich eines, pellte es, aß, nahm sich noch eines, dann ein weiteres. Er trank auch noch eine zweite Tasse Kaffee und aß von den Ostereiern, die doch für uns bestimmt waren, alle auf bis auf eines. Vereinsamt lag es in der Schale. Meine Tante sah es mit entsetzten Augen, aber meine Oma, inzwischen halbwegs genesen, kommentierte, als der Arzt zufrieden gegangen war: „Er ist doch ein vornehmer Herr. Er hat nicht alle Eier aufgegessen, sondern eines übrig gelassen.“
Seitdem weiß, was ein vornehmer Herr ist.
Heinrich Peuckmann