Bei unserer Ankunft in Tel Aviv war die Luft gelb, das Thermometer zeigte 40 Grad im Schatten, und eine Palme stürzte quer über die Straße vom Flughafen in die Stadt. Von einem riesigen Plakat starrte Netanyahu hinab wie ein halbierter Big Brother: „Du bist der Kopf. Gott sei Dank.“
Nachts hörten wir Flugzeuge und dachten an Krieg.
Am nächsten Morgen war der Himmel blau, die Temperatur angenehm, es gab Leben in den Cafés und klares Wasser im Meer. Alles fühlte sich normal an – besser als normal.
Zum Netanyahu-Plakat sah ich, weniger groß, dafür öfter, ein Anti-Plakat: „Du bist der Kopf. Du bist schuld.“
Ich verliebte mich aufs Neue in Tel Aviv. Das enge Nebeneinander von Baracken und Hochhäusern, alt und neu, schäbig und teuer, renoviert und improvisiert, die bunten Graffiti an den Mauern, die bunten Menschen in den Straßen. Eine Stadt, in der man leben möchte. Wie Zuhause, nur mit Magie.
Aber die Endzeitstimmung, die jetzt nicht mehr in der Luft hing, hörte ich aus vielen Gesprächen heraus.
Der Staat Israel besteht seit 76 Jahren. Wie lange noch?
Wohin kann man gehen, wenn es sich in Israel nicht mehr leben lässt? Der Antisemitismus in der Welt nimmt zu.
Religiöse Fanatiker aus den Regierungsparteien arbeiten daran, einen dritten Tempel in Jerusalem aufzurichten. Sie opfern Tiere auf dem Tempelberg, warten auf den Messias und wollen das ganze Land für sich.
Es wird einen Militärputsch geben.
Es wird zum Bürgerkrieg kommen.
Netanyahu zerstört unseren Staat.
Netanyahu ist für Israel gefährlicher als die Hamas.
Kaum einer ist optimistisch.
Auf einem Ehemaligentreffen des Gymnasia Rechavia, einer Eliteschule in Jerusalem, sind Ärzte, Juristen, Unternehmer versammelt. Auch ein ehemaliger Minister ist dabei. Viele äußern ihren Unmut über die aktuelle Regierung. Ich unterhalte mich mit einem emeritierten Professor. Wird Netanyahu nicht bald gehen müssen, frage ich, bei so viel Widerstand aus der Gesellschaft? Er widerspricht. Wir leben im Jahr 1934, sagt er, wir sind in diesem Land schon in der Minderheit.
In Yaffo sprechen wir mit einer jungen Palästinenserin. Sie trägt einen schwarzen Hijab, und der Kontrast zu den langen künstlichen Wimpern und ihren aufgespritzten Lippen irritiert mich. Sie kritisiert die religiöse Schule, die sie besucht hat. Die einfachen Menschen wollen keinen Krieg, sagt sie. Sie wollen, dass es ihrer Familie gut geht. Den Krieg wollen andere.
Jeden Samstagabend gibt es große Demonstrationen. Für die Rückkehr der Geiseln, die am 7. Oktober 2023 verschleppt wurden, für ein Ende des Krieges. Gegen die Regierung. Nicht groß genug, sagt ein Freund. Vor Beginn des Krieges seien die Demonstrationen gegen die Regierung viel größer gewesen.
Netanyahu braucht den Krieg, um an der Macht zu bleiben. Braucht er auch die Hamas?
Die Warnungen der jungen Soldatinnen am Ausguck, die ungewöhnliche Aktivitäten an der Grenze beobachteten, wurden nicht gehört. Der Vater einer von ihnen, die am 7. Oktober ermordet wurde, spricht auf einer Demonstration.
Polizisten treten einen Mann, der durch den Angriff der Hamas sechs Angehörige verloren hat.
Sechzig Prozent der Bevölkerung sind gegen die Regierung, siebzig vielleicht, heißt es. Andere sagen, der Eindruck, den ich habe, täuscht: Tel Aviv ist nicht Israel.
In Israel treffen auf engstem Raum, so wie die Hochhäuser und die Hütten in Tel Aviv, äußerst gegensätzliche Positionen aufeinander. Eine moderne, liberale und gebildete Gesellschaft wehrt sich gegen religiöse Ultras, Rechtsnationale, Faschisten. In Israel passiert im Kleinen etwas, das zur Zeit fast überall auf der Welt passiert. Die gute Nachricht aus Israel ist: Die Gesellschaft wehrt sich tatsächlich. Wird sie Erfolg haben?
Werden die Leute, die sich andernorts wehren, Erfolg haben?
Es gibt inzwischen weltweit wieder mehr Diktaturen als Demokratien. In Italien regieren die Neofaschisten. In Frankreich haben sie es nicht mehr weit dorthin. Möglicherweise werden wir in Deutschland bald wieder sehr viel Mut brauchen, um unsere Meinung frei zu äußern. Wird es, anders als 1933, genug Menschen geben, die diesen Mut auch aufbringen?
Wie die Zahl der Demokratien abnimmt, so nimmt die Zahl der Kriege zu. Denn auch das ist Grundsatz einer freien Gesellschaft: Konflikte mit Worten auszukämpfen und nicht mit Waffen.
Am vorletzten Tag unseres Aufenthalts lagen wir am Strand. Ich meinte, Gewitter aus der Ferne zu hören. Viele Leute standen auf und sahen nach oben, wo Blitze den Himmel erleuchteten. Der Bademeister forderte uns auf, den Schutzraum aufzusuchen. Ich hatte, anders als die Einheimischen, das Geräusch von Raketen nicht erkannt: Ich hatte das Glück, aus einer Welt ohne Krieg zu stammen.
Christine Sterly-Paulsen
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Nachwort zur Anthologie “Freiheit des Wortes”, die im September 2024 erscheinen wird.
Auf dem Beitragsbild ist ein Ausschnitt aus einem Antikriegsplakat zu sehen: “Nicht in unserem Namen, nicht unter unseren Augen – wir dulden keine Schlacht.”