Sich fügen heißt lügen.

Heute vor neunzig Jahren wurde Erich Mühsam, einer der mutigsten und aufrichtigsten Menschen, Dichter und Anarchist, im KZ Oranienburg ermordet.

Acht Tage, ehe man ihn verhaftete, am 20. Februar 1933, hielt er seine letzte öffentliche Rede, vor der oppositionellen Berliner Ortsgruppe des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller: „Und ich sage euch, daß wir, die wir hier versammelt sind, uns alle nicht wiedersehen. Wir sind eine Kompanie auf verlorenem Posten. Aber wenn wir hundertmal in den Gefängnissen verrecken werden, so müssen wir heute noch die Wahrheit sagen, hinausrufen, daß wir protestieren.“

Mühsam schrieb viele Gefängnisgedichte, das oben zitierte ist eins davon. Die Nazis waren nicht die Ersten, die ihn einsperrten, auch das Kaiserreich und die Weimarer Republik brachten ihn hinter Gitter. Für seine Beteiligung an der Münchner Räterepublik wurde er zu fünfzehn Jahren Festungshaft verurteilt, und wäre er nicht nach fünf Jahren entlassen worden, hätten seine späteren Mörder die Mühe nicht gehabt, ihn noch einmal festzunehmen.

Erich Mühsam suchte sein ideelles politisches Zuhause nicht bei der nach protestantischer Arbeitsethik schuftenden werktätigen Klasse, er verortete sich beim fünften Stand, dem von Allen verachteten Lumpenproletariat. In dessen Angehörigen sah er die wahre Bohème, „die einer neuen Kultur die Wege weist“, das Spiegelbild des künstlerischen Menschen, zu ihnen fühlte er die innigste Solidarität. Denn für ihn waren Künstler, unabhängig von ihrem Werk, zuallererst „Menschen, die die gesellschaftliche Nutzarbeit verweigern“ – deren Recht darauf forderte er zugleich mit dem Recht des fünften Standes auf Arbeitsverweigerung.

„Der Künstler wird [..] naturgemäß in eine jeder Gesellschaftsordnung feindliche Stellung gedrängt. Sein Selbsterhaltungstrieb führt ihn unweigerlich dezentralistischen, anarchistischen Tendenzen zu.“

Freiheit, die selbstgeschaffene und erkämpfte, ist eine Frage des Überlebens, im autoritären Elternhaus, in der autoritären Schule, im autoritären Staat, so lange, bis letzterer ihm zum Mörder wird.

„Kein Staat kann Freiheit schaffen oder Freiheit erhalten.“

Erich Mühsam verabscheute alle Beziehungen zwischen Menschen, die auf Gehorsam beruhen und somit besonders das Militär. Schon 1912 klagte er die deutschen Sozialdemokraten dessen an, dass sie dem kommenden Krieg zustimmen würden, und schrieb etwas, was mehr als hundert Jahre später unverändert stehen bleiben kann: „Die letzte Entscheidung über Krieg und Frieden haben heute die Börsen und Bankhäuser.“

Wenn die meisten seiner Zeitgenossen im „Untertan“ ihr Portrait gezeichnet fanden, so war er der Anti-Untertan. Bis heute feiern wir lieber die bürgerlichen Talente und adligen Offiziere als den Besucher der Nacktkommune. Weil seine Respektlosigkeit, seine Unbedingtheit an etwas rühren, das bei zu vielen von uns verkümmert oder korrumpiert ist – das kleine Organ Gewissen. Vielleicht wurde es der gesamten deutschen Nation operativ entfernt, und wenn wir es vermissen, so wollen wir‘s nicht zugeben und bauen unsere Denkmäler denen, die uns nicht verstören.

Mit all seinem Mut konnte Erich Mühsam den Lauf der Dinge nicht aufhalten. Wären mehr Menschen wie er da gewesen, so hätte es anders ausgehen können.

Wollt ihr denen Gutes tun, die der Tod getroffen, Menschen, laßt die Toten ruhn und erfüllt ihr Hoffen!

 

Christine Sterly-Paulsen

Dieser Text beruht im Wesentlichen auf Auszügen aus meinem Essay „Woher der Mut?“, der ab September 2024 in der neuen Anthologie des Hamburger VS zur Freiheit des Wortes nachzulesen ist.