Wir Schreibenden leiden unter einem Dilemma. Viele, wenn nicht die meisten von uns, sind im Grunde ihres Herzens schüchtern, introvertiert und gern mit ihren Texten allein. Um sich aber diese Momente mit den Texten allein erlauben zu können, braucht es – genau: Öffentliche Aufmerksamkeit.

Ich dachte mir, ein guter Weg, öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen ist, sich selbst in Verbindung mit prominenten Namen zu nennen. Der Gedanke kam mir zum ersten Mal, als ich ein Bild von Putin sah, der in einem kreuzförmigen Becken mit Eiswasser badete. Putin und ich, wollte ich schreiben, haben eine Gemeinsamkeit: Wir baden beide gern im kalten Wasser, aber schon bei der Religion hört es auf. Ehe ich meinen Plan ausführen konnte, begann der Ukrainekrieg, und nichts an Putin kam mir mehr lustig vor.

 

Jetzt beeile ich mich ein bisschen, ehe Matthias Döpfner auch einen Krieg anfängt.

Ich vermute, ich habe mit ihm noch weniger gemeinsam als mit Putin, jedenfalls weiß ich nichts von seinen Badegewohnheiten, und seine Milliarden teilt er auch nicht mit mir. Siehe da, wir haben doch eine Gemeinsamkeit: Wir haben beide keine Erbschaftssteuer bezahlt. Was bei mir allerdings daran liegt, dass ich nicht geerbt habe. Was seine Ansichten betrifft, so wundere ich mich, dass alle, die darüber reden und schreiben, erstaunt und schockiert scheinen. Was ist der Aufreger? Er hat offenbart, dass er genau das denkt, was seit Jahrzehnten in „Bild“ und „Welt“ zu lesen ist. Insofern ist Matthias Döpfner irgendwie authentisch. Vielleicht haben alle stillschweigend vorausgesetzt, dass er das lesende Volk mit Müll füttert, aber privat ein ganz feiner Mensch ist. So wie ein Schlachthofbesitzer, bei dem zu Hause nur ein glückliches Freiland-Biohuhn auf den Tisch kommt. Wäre das besser?

 

Wenn die KI, wie viele befürchten, uns beide, Herrn Döpfner und mich, in absehbarer Zeit arbeitslos macht, hält er mir jetzt vielleicht zum Dank eine Mindestlohn-Agrararbeitsstelle in der Ex-DDR frei. Er wird dann für seine kleinen Ausgaben sicher noch ein paar Millionen übrig haben und sich keine Gedanken um die monatliche Miete machen müssen.

 

Vor 150 Jahren (ungefähr) kam mit der Entwicklung der Fotografie die Befürchtung auf, die bildende Kunst, besonders die Malerei, sei mit dieser Erfindung am Ende. Glücklicherweise reagierten die Künstler der Welt in den kommenden Jahrzehnten kreativer als die Öffentlichkeit es von ihnen erwartet hatte. Vielleicht trug gerade die unterstellte Überflüssigkeit dazu bei, dass sie mutiger wurden. Sich von Konventionen verabschiedeten. Unbekannte Wege gingen. Ich wage zu vermuten, dass die KI, ähnlich wie seinerzeit die industrielle Revolution, die Inhaber bestimmter bürgerlicher und regulär bezahlter Berufe härter treffen wird als die ohnehin meist prekär lebenden Autorinnen und anderswie künstlerisch Tätigen. Ob ein neues Subproletariat der Gebildeten daraus erwachsen wird, können diejenigen, die es installiert haben, Chat GPT in meinem Namen fragen. Wie immer die Antwort ausfällt, es ergibt sich gleich die nächste interessante Frage: Kann eine KI bewusst lügen?

Christine Sterly-Paulsen